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#8 Molinismus, die Nichtevangelisierten und kultureller Chauvinismus

May 06, 2015
Q

Wie ich finde, riecht William Lane Craigs Argument[1], dass Gott dafür gesorgt hat, dass diejenigen, von denen er weiß, dass sie positiv auf das Evangelium reagieren, in Teilen der Welt leben, wo sie am ehesten von Evangelium hören, nach „kulturellem Chauvinismus“. Denn demnach würden Unmengen von Menschen einfach so abgeschrieben, und zwar vermutlich, weil sie das Evangelium nicht geglaubt hätten, selbst wenn sie es gehört hätten. Ich finde C. S. Lewis hierbei überzeugender – also seinen Standpunkt, dass Jesu Blut Menschen retten kann, die nicht unbedingt wissen, dass sie durch sein Blut gerettet werden. Würden Sie mich korrigieren, wenn ich Ihren Standpunkt falsch verstanden habe?

Roger

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Dr. Craig

Dr. craig’s response


A [

Zwar denke ich, dass Sie, Roger, meinen Standpunkt mehr oder weniger richtig verstanden haben, doch hat er meiner Meinung nach nicht die Konsequenzen, die Sie angedeutet haben. Bevor ich das erläutere, möchte ich klarstellen, was mein Standpunkt ist.

Das grundlegende Problem, mit dem ich mich dabei auseinandersetze, ist das Schicksal der Nichtevangelisierten, also derjenigen, die nie das Evangelium hören. Ich meine, dass es möglich ist, dass Gott, der ja möchte, dass alle gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1. Tim 2,4), in seiner Vorsehung die Welt so angeordnet hat, dass jeder, der dem Evangelium glaubt, wenn er es hört, zu einer Zeit und an einem Ort geboren wird, wo er das Evangelium auch hört. So könnte am Tag des Jüngsten Gerichts niemand vor Gott stehen und sich darüber beschweren, dass er verdammt wird, obwohl er doch auf das Evangelium reagiert hätte, wenn er nur die Gelegenheit dazu gehabt hätte, auch wenn er vielleicht nicht auf die allgemeine Gegenwart Gottes in der Natur und dem Gewissen reagiert hat.

C. S. Lewis war Inklusivist und anscheinend der Meinung, dass das Problem der Nichtevangelisierten durch die Ansicht gelöst wird, dass die Menschen aufgrund des Todes Jesu gerettet werden, indem sie angemessen auf die Erkenntnis reagieren, die sie sehr wohl haben. Sie sagen, Sie fänden Lewis‘ Ansicht „überzeugender“. Ich glaube, Sie meinten „attraktiver“. Doch seine Ansicht, welche ich auch einmal vertreten habe, ist aus zwei Gründen unzutreffend: (1) Liest man Römer 1 und versucht, das Kapitel ehrlich zu interpretieren, kann man unmöglich optimistisch sein, dass viele der Nichtevangelisierten durch ihre Reaktion auf die allgemeine Offenbarung gerettet werden. Vielleicht werden ein paar gerettet (was in meiner Anschauung auch möglich ist), aber nach dem Lesen von Römer 1 brauchen wir uns kein allzu nettes Bild vom Schicksal der Nichtevangelisierten auszumalen. Lewis‘ Ansicht ist zweifelsohne attraktiv und tröstend, aber nur schwer mit der biblischen Lehre in Einklang zu bringen. (2) Lewis‘ Inklusivismus ist keine wirkliche Lösung für das Problem. Das Problem mit dem Inklusivismus ist nicht, dass er zu weit geht, sondern dass er eben nicht weit genug geht. Denn er schreibt die Errettung nur denjenigen zu, die positiv auf Gottes allgemeine Offenbarung reagieren. Doch sagt er nichts über diejenigen, die Gottes allgemeine Offenbarung ablehnen und so verloren gehen, die aber auf das Evangelium reagiert hätten und gerettet worden wären, wenn sie es nur gehört hätten. Das Problem der Nichtevangelisierten ist ein kontrafaktisches Problem: Was ist mit denjenigen, die verdammt wurden, aber gerettet worden wären, wenn sie nur zu einer Zeit und an einem Ort geboren worden wären, wo sie das Evangelium gehört hätten? Ihre Verdammnis scheint einfach Pech zu sein; das Ergebnis eines historischen und geographischen Zufalls. Der Inklusivismus wie der von Lewis befasst sich mit diesem kontrafaktischen Problem gar nicht und stellt somit keine zufriedenstellende Lösung für das Problem dar. Deswegen konnte ich da nicht Halt machen.

Ich denke, es ist klar, dass meiner Ansicht zufolge niemand „abgeschrieben“ wird. Jedem Menschen wird genügend Gnade für die Errettung entgegengebracht, auch den Nichtevangelisierten. Die Errettung ist universal zugänglich. Doch Gott ist zu gut, als dass er zulassen könnte, dass Leute verdammt werden, nur weil sie zufällig zur falschen Zeit und am falschen Ort geboren wurden. So „platziert“ er diejenigen, die auf das Evangelium reagieren würden, wenn sie es hören, in Zeiten und an Orten, wo sie es auch hören. Er tut den Nichtevangelisierten, die das Licht der allgemeinen Offenbarung ablehnen und verloren gehen, kein Unrecht an, weil er weiß, dass sie auch dann nicht auf das Evangelium reagiert hätten, wenn sie es gehört hätten.

Ist meine Anschauung also kulturell chauvinistisch? Bevor ich mich mit dieser Frage befasse, möchte ich etwas zum Gewicht des Einwandes bemerken. Der Einwand stellt nicht in Frage, dass meine Lösung möglich ist (womit ich schon alles habe, um das Problem zu lösen) oder dass sie wahr ist. Er befindet meine Lösung nur für unangenehm. Ich bin mir nicht sicher, wie ernst ein solcher Einwand zu nehmen ist. Wenn wir nämlich glauben, dass Menschen durch ihre Seele individualisiert werden, dann hätte meine Seele in einen anderen Körper platziert werden können, sodass ich einer anderen Menschenrasse angehört hätte und zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort geboren worden wäre. Gemäß einem solchen Verständnis des Menschseins sind körperliche Merkmale viel weniger bedeutend als einer materialistischen Ansicht zufolge. Dennoch spricht die Bibel davon, dass es im Eschaton Leute aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen geben wird (Offb 5,9), deswegen sollten wir die Frage stellen, ob meine Anschauung dies ausschließt.

Die Antwort lautet: überhaupt nicht! Jeder, der denkt, das Christentum sei eine Religion für Weiße, hat einfach keine Ahnung von den demographischen Fakten des Christentums weltweit. Wussten Sie, dass heute zwei Drittel aller Evangelikalen in der Dritten Welt leben, weil die Wachstumsraten des Christentums in Asien, Afrika und Lateinamerika explodieren? Wussten Sie, dass es seit 1987 in Asien mehr evangelikale Christen gibt als in Nordamerika und seit 1991 mehr als in der gesamten westlichen Welt? Wenn überhaupt, dann ist das Christentum heute eine asiatische Religion. Es kann gut sein, dass das weiße europäische Christentum lediglich das Mittel war, mit dem Gott die Mehrheit der Menschen mit dem Evangelium erreicht hat. Wenn Sie sich die gesamte Geschichte der Menschheit von vorne bis hinten vor Augen führen, erkennen Sie, dass meine Anschauung überhaupt nicht kulturell chauvinistisch ist.

Weiteres zu diesem sehr wichtigen Thema finden Sie auf dieser Seite in der Rubrik mit den Artikeln (“Scholarly Articles: Christian Particularism[2] oder “Popular Articles: Christianity and Other Faiths”).

William Lane Craig

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/molinism-the-unevangelized-and-cultural-chauvinism


Anmerkungen

[1] Dieses Argument findet sich in W.L. Craig, "On Guard" (erscheint 2015 auf Deutsch), Kapitel 9, sowie im Artikel "Wie kann Christus der einzige Weg zu Gott sein" (in deutscher Sprache).

[2] Bislang beide nur in Englischer Sprache. (Anm. d. Übers.)

- William Lane Craig