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#127 Ist eine anfangslose Vergangenheit aktual unendlich?

May 06, 2015
Q

Sehr geehrter Prof. Craig,

beim letzten Vortrag der Konferenz „Formal Methods in the Epistemology of Religion“ („Formale Methoden in der religiösen Epistemologie“, Juni 2009 in Belgien) sprach der berühmte europäische Atheist Herman Philipse in der Einleitung ein gewisses Anliegen an, welches ich seit langem mit ihm teile: Ihr kalām-kosmologisches Argument unterstellt problematischerweise, dass eine anfangslose Kausalkette eine aktual unendliche Menge ist (oder bildet).

Denn wenn Sie Präsentist sind, warum sollten Sie sagen, dass wenn die Vergangenheit aktual unendlich war, die vergangenen Intervalle eine aktual unendliche Menge bilden würden (wie es in kalām-kosmologischen Argumenten angenommen wird)? Wenn nur der gegenwärtige temporale Bereich real ist (wie der Präsentist behauptet), dann gibt es keine vergangenen Intervalle, die eine Menge bilden.

Würden Sie einen graduellen Präsentismus annehmen – der sagt, dass die Gegenwart realer ist als die Vergangenheit und die Zukunft, die nichtsdestoweniger ebenfalls real sind, wenn auch in einem geringeren Grad –, dann könnten Sie multiple vergangene Intervalle annehmen. Doch dann müssten Sie auch multiple zukünftige Intervalle annehmen – und so könnten Sie ein Kalām-Argument gegen die Unendlichkeit der Zukunft anführen. Aber es scheint, als wollten Sie die Schlussfolgerung vermeiden, dass die Zukunft endlich ist. Zumindest würde eine solche Schlussfolgerung ein Problem für die Ewigkeit von Himmel und Hölle aufwerfen: Zeit ist für Menschen essentiell, und es ergibt auch keinen Sinn zu sagen: „Nach diesem zeitlichen Leben wird es eine zeitlose Existenz geben“.

Haben Sie irgendwelche Gedanken über den Ausweg?

Danke.

Vlastimil

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Dr. Craig

Dr. craig’s response


A [

Schön, von Ihnen zu hören, Vlastimil! Grüßen Sie Paula von mir! Ist es nicht erfreulich zu sehen, dass diese Themen endlich am europäischen Horizont auftauchen? Ich wurde gerade eingeladen, für zwei deutsche Bücher mit Aufsätzen über die Argumente der natürlichen Theologie als Beitrag je ein Essay über das kalām-kosmologische Argument zu schreiben. Dass solche Themen überhaupt diskutiert werden, selbst wenn es – wie in der von Ihnen erwähnten Konferenz – in kritischer Weise geschieht, ist ein Fortschritt.

Streng genommen würde ich nicht sagen, wie Sie es formuliert haben, dass eine „anfangslose Kausalkette eine aktual unendliche Menge ist (oder bildet)“. Mengen, wenn sie existieren, sind abstrakte Objekte und sollten daher nicht mit der Serie von Ereignissen in der Zeit in eins gesetzt werden. Ich würde die Menge eine "nützliche Fiktion" nennen; wir könnten vermutlich sagen, dass die Menge vergangener Ereignisse eine unendliche Menge ist, wenn die Serie vergangener Ereignisse anfangslos ist. Aber ich ziehe es vor, einfach zu sagen, dass wenn die temporale Serie von Ereignissen anfangslos ist, die Zahl der vergangenen Ereignisse unendlich ist oder dass eine unendliche Zahl vergangener Ereignisse stattgefunden hat.

Dies zu sagen, halte ich für unproblematisch. Die Probleme, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, beruhen meiner Meinung nach darauf, dass die Gegebenheit des Tempus es schwierig macht, verschiedene intuitive Begriffe linguistisch zu erfassen. Zum Beispiel scheint es einen intuitiven Unterschied zwischen dem Präsentisten zu geben, der denkt, dass nur der gegenwärtige Augenblick der Zeit existiert, und dem sogenannten Eternalisten, der denkt, dass alle Augenblicke der Zeit existieren. Viele Philosophen haben aber festgestellt, wie schwierig es ist, diesen Unterschied linguistisch auszudrücken. Denn wenn „existiert“ im Präsens steht, dann stimmen Eternalisten zu, dass der einzige Augenblick der Zeit, der existiert, die Gegenwart ist! Denn damit wird einfach gesagt, dass nur der gegenwärtige Augenblick gegenwärtig existiert. Wenn „existiert“ dagegen kein Tempus hat, dann stimmt der Präsentist zu, dass alle Augenblicke der Zeit existieren! Denn damit wird einfach gesagt, dass jeder Augenblick der Zeit zu irgendeinem Zeitpunkt existiert. Philosophen haben auf linguistische Wortverdrehungen zurückgegriffen, um den Unterschied zwischen Präsentismus und Eternalismus auszudrücken. Ich halte es für offensichtlich, dass es sich um zwei verschiedene Ontologien handelt, selbst wenn bei unseren Versuchen, den Unterschied in Sätzen auszudrücken, unsere linguistischen Mittel nicht ausreichen.

Bei einer eternalistischen Ontologie ist der Fall klar: Es kann, da alle Ereignisse (in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) gleichermaßen real sind, keinen Zweifel geben, dass eine anfangslose temporale Regression von Ereignissen aus einer aktual unendlichen Zahl von Ereignissen besteht. Da alle Ereignisse gleichermaßen real sind, verliert die Tatsache, dass sie zu verschiedenen Zeiten (zeitlos) existieren, jede Bedeutung. Die Frage bleibt also, wie es sich bei einer präsentistischen Ontologie verhält: darf man im Rahmen einer präsentistischen Ontologie, bei der die Ereignisse in der Vergangenheit zeitlich verteilt sind (also einige Ereignisse sich früher, andere später ereignen), sagen, dass die Zahl der Ereignisse in einer anfangslosen Serie von Ereignissen aktual unendlich ist?

Nun können wir es als gegeben ansehen, dass der Präsentist Dinge, die einmal existiert haben, jetzt aber nicht mehr existieren, genau zählen kann. Er weiß zum Beispiel, wie viele amerikanische Präsidenten es bis zum gegenwärtigen Amtsinhaber gegeben hat, welcher Tag des Monats es ist, wie viele Wochen seit seinem letzten Haarschnitt vergangen sind, und so weiter. Er weiß, wie alt seine Kinder sind, und kann schätzen, wie viele Milliarden Jahre seit dem Urknall vergangen sind. Auch wenn solche Dinge oder Ereignisse in der Gegenwart (in der präsentistischen Sicht) nicht "existieren", ist dies kein Hindernis, um sie aufzuzählen. Tatsächlich ist jegliches Hindernis hier rein epistemisch; es mag ja sein, dass unsere Erkenntnis über die Zahl vergangener Ereignisse etwas vage ist, aber es muss ja eine bestimmte Zahl solcher Dinge geben. Bei einer anfangslosen Serie vergangener Ereignisse gleicher Dauer muss also die Zahl der vergangenen Ereignisse unendlich sein, denn sie ist größer als jede natürliche Zahl. Aber dann muss die Zahl der vergangenen Ereignisse ℵ0 sein (die erste transfinite Kardinalzahl), denn ∞ (das Symbol für ein potentiell Unendliches) ist keine Zahl, sondern ein idealer Grenzwert.

Dann aber stellt sich die Frage, ob im Präsentismus die Serie zukünftiger Ereignisse, wenn die Zeit endlos ist, nicht ebenfalls aktual unendlich ist. Intuitiv scheint klar zu sein, dass die Situation nicht symmetrisch ist, aber das ist bekanntermaßen linguistisch schwer auszudrücken. Man könnte zu Recht darauf hinweisen, dass es im Präsentismus keine zukünftigen Ereignisse und somit auch keine Serie zukünftiger Ereignisse gibt. Deshalb ist die Zahl zukünftiger Ereignisse einfach Null, nicht ℵ0. (Mit dieser Aussage ist nicht gemeint, dass es zukünftige Ereignisse gibt und ihre Zahl 0 ist, sondern dass es einfach keine zukünftigen Ereignisse gibt.) Doch im Präsentismus ist die Vergangenheit so unreal wie die Zukunft, und deshalb könnte man mit gleicher Berechtigung sagen, dass die Zahl vergangener Ereignisse Null ist.

Man könnte sagen, dass es vergangene Ereignisse zumindest gegeben hat, sodass sie gezählt werden können. Aber auf derselben Linie kann man sagen, dass es zukünftige Ereignisse geben wird; warum also lassen diese sich nicht zählen? Dementsprechend könnte man versucht sein zu sagen, dass es in einer endlosen Zukunft eine aktual unendliche Zahl von Ereignissen geben wird, so wie es in einer anfangslosen Vergangenheit eine aktual unendliche Zahl von Ereignissen gegeben hat. Doch in einer Hinsicht ist diese Behauptung falsch; denn es wird nie eine aktual unendliche Zahl von Ereignissen geben, da es unmöglich ist, bis unendlich zu zählen. Der einzige Sinn, in dem es eine unendliche Zahl von Ereignissen geben wird, ist, dass die Serie von Ereignissen gegen unendlich als Grenzwert geht.

Aber das ist das Konzept einer potentiellen Unendlichkeit, nicht das einer aktualen Unendlichkeit. Hier kommt die Objektivität eines temporalen Werdens zum Tragen. Denn gemäß dem Zeitpfeil ist die Serie von Ereignissen, die später liegen als irgendein willkürlich gewähltes vergangenes Ereignis, zu Recht als potentiell unendlich zu betrachten, das heißt als endlich, aber gegen unendlich als Grenzwert unbestimmt zunehmend. Signifikant ist, dass die Situation nicht symmetrisch ist: Wie wir gesehen haben, kann die Serie von Ereignissen, die früher sind als irgendein willkürlich gewähltes zukünftiges Ereignis, nicht zu Recht als potentiell unendlich betrachtet werden. Wenn wir also sagen, dass die Zahl vergangener Ereignisse unendlich ist, meinen wir, dass vor heute ℵ0 Ereignisse stattgefunden haben. Aber wenn wir sagen, dass die Zahl der zukünftigen Ereignisse unendlich ist, meinen wir nicht, dass ℵ0 Ereignisse stattfinden werden, denn das ist falsch.

Ironischerweise zeigt sich also, dass die Serie zukünftiger Ereignisse nicht aktual unendlich sein kann; das ist unabhängig von der Unendlichkeit der Vergangenheit oder der Möglichkeit einer aktualen Unendlichkeit der Fall, denn es ist die Objektivität des temporalen Werdens, welche die Zukunft nur potentiell unendlich macht.

(Übers.: M. Wilczek)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/is-a-beginningless-past-actually-infinite

- William Lane Craig