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#203 Gott und Gödel

May 06, 2015
Q

Sehr geehrter Prof. Dr. Craig,

ich bin Dozent für Mathematik an einer Universität, und die Idee der Unendlichkeit Gottes hat mich immer schon interessiert. Mir ist aufgefallen, dass Sie sich in vielen Ihrer Debatten mit der Idee der Unendlichkeit und ihrer Bedeutung beschäftigen. (Übrigens bin ich vor allem durch Ihre Debatten mit Ihrer Arbeit vertraut.)

Ich habe gerade Ihre Antwort auf Frage 197 gelesen (Ist die Zahl der Dinge, die Gott weiß, tatsächlich unendlich?), und brauche vielleicht noch etwas mehr Zeit, diese Gedanken zu verdauen. Aber sie hat in mir auch eine Frage angestoßen, über die ich schon lange nachgedacht habe.

In der Mathematik gibt es berühmte Theoreme, die besagen, dass nicht alle mathematischen Wahrheiten erkannt werden können – ich bin sicher, die Gödelschen Unvollständigkeitssätze sind Ihnen vertraut. Aber noch überraschender ist, dass es tatsächlich möglich ist, konkrete Beispiele unerkennbarer Tatsachen zu nennen – zum Beispiel die Kontinuumshypothese (die sich interessanterweise auf unendliche Mengen bezieht). Wenn ich sage: „Beispiele nennen“, meine ich natürlich, dass es möglich ist, eine Aussage und ihre Verneinung aufzuschreiben und zu wissen, dass eine von beiden wahr ist, aber auch zu wissen, dass es unmöglich ist zu sagen, welche der beiden.

Ich denke, am einfachsten lässt sich meine Frage so formulieren: „Kennt Gott die Antwort auf diese Fragen?“

Hier ist zum Beispiel zu beachten, dass die Kontinuumshypothese entweder „wahr“ oder „falsch“ ist. Jede der beiden Antworten ist mit den Axiomen der Mengenlehre vereinbar, aber es GIBT eine Antwort!

Ich würde sehr gern Ihre Gedanken dazu hören.

Grüße aus Sydney, Australien.

James

  • Australia

Dr. Craig

Dr. craig’s response


A [

Wie schön, von einem professionellen Mathematiker zu hören, James! Diese Woche habe ich einiges über Nichtstandardmodelle der Arithmetik gelesen. Das ist so interessant und seltsam! Die Peano-Axiome der Arithmetik sind in der von Ihnen beschriebenen Weise unvollständig; es gibt arithmetische Wahrheiten, die sich in den Begriffen einer Prädikatenlogik erster Stufe nicht ausschließlich auf der Grundlage der Axiome entscheiden lassen.

Doch so wie ich die Unvollständigkeitstheoreme verstehe, zeigen sie nicht die Unerkennbarkeit bestimmter mathematischer Wahrheiten, sondern vielmehr ihre Unableitbarkeit von den Axiomen der entsprechenden Theorie. In einigen Fällen wissen wir, dass die Aussagen wahr sind, obwohl sie sich nicht anhand der Axiome beweisen lassen. In anderen Fällen, wie bei der von Ihnen erwähnten Kontinuumshypothese, wissen wir vielleicht nicht, ob die Aussage wahr oder falsch ist, aber das schließt nicht aus, dass sie einen Wahrheitswert hat. Wenn das so ist, wird dieser Wahrheitswert Gott bekannt sein, da Gott, als ein allwissendes Wesen, die essenzielle Eigenschaft hat, nur wahre Propositionen und alle wahren Propositionen zu kennen. Er braucht die Aussage nicht von den Axiomen abzuleiten; Er kennt sie bereits, wenn sie wahr sind, und weiß auch, ob sie ableitbar sind oder nicht.

Ich sage: „wenn sie wahr sind“. Nur aus der platonischen Sicht der Mathematik kann es bei einigen Sätzen der Mathematik keine Lücken in den Wahrheitswerten geben[1]. Die Kontinuumshypothese, die besagt, dass die nächstgrößte Zahl nach ℵ0 (die kleinste der unendlichen Kardinalzahlen) die Zahl der Punkte auf einer Linie ist, braucht überhaupt keinen Wahrheitswert zu haben, wenn wir in Bezug auf mathematische Einheiten Anti-Realisten sind. Wenn wir, wozu ich stark tendiere, Mengenlehre als eine Imaginationsübung betrachten, bei der wir die Axiome der Mengentheorie als Thesen behandeln, die wir uns als wahr vorstellen und dann die Schlüsse ableiten, dann gibt es in der fiktionalen Welt der Mengentheorie einfach keine Wahrheit über die Kontinuumshypothese, genauso wenig wie es eine Wahrheit über die Schuhgröße von Sherlock Holmes gibt. Das wurde in der Geschichte über Sherlock Holmes einfach offen gelassen! Fiktionale Einheiten sind demnach radikal unvollständig, und die Tatsache, dass weder die Kontinuumshypothese noch ihre Verneinung von den Standardaxiomen der Mengenlehre ableitbar ist, ist genau das, was wir von fiktionalen Einheiten erwarten sollten, die nicht vollständig charakterisiert wurden. In einem solchen Fall gibt es keine von Gott zu kennende Wahrheit, so wie es für Ihn keine zu kennende Wahrheit über die Schuhgröße von Sherlock Holmes gibt.

William Lane Craig

(Übers.: M. Wilczek)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/god-and-godel

Anmerkungen

[1] Aus platonischer Sicht existieren abstrakte Objekte (oder: "Ideen") wie Zahlen etc. unabhängig vom Denken von Menschen. (Anm. d. Übers.)

- William Lane Craig