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#5 Der Unterschied zwischen möglichen und machbaren Welten

May 06, 2015
Q

Hallo Herr Prof. Craig,

ich habe mir kürzlich Ihre Debatte gegen Eric Dayton zum Thema „Sind Leiden und das Übel in der Welt ein Beweis gegen die Existenz Gottes?"[1] angehört. Zwar habe ich ein klares Verständnis davon, warum Gott nichts tun kann, was an sich (oder logisch) unmöglich ist (also z. B. eine Welt schaffen, in der er die Menschen zwingt, sich aus freien Stücken für das Gute anstelle des Bösen zu entscheiden), doch ist mir nicht klar, was Sie meinten, als sie sagten, dass es vielleicht nicht machbar für Gott ist, eine Welt zu schaffen, in der das Böse nicht existiert, auch wenn es logisch möglich für ihn sein könnte. Wenn ich versuche, mir derlei Situationen vorzustellen, scheinen sie sich immer auf solche zu reduzieren, die in sich unmöglich sind. Bitte erklären und veranschaulichen Sie mir doch, was Sie damit meinen, dass Gott das zulässt, was böse und vermeidbar ist, dessen Vermeidung für Gott jedoch nicht machbar ist.

Martin

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Dr. Craig

Dr. craig’s response


A [

Die Unterscheidung zwischen möglichen Welten und machbaren Welten ist das Herzstück der Lehre des „mittleren Wissens“[2] und kann sehr wichtige theologische Implikationen haben, wie jene, auf die Sie hingewiesen haben. Der Philosoph Thomas Flint hat erstmals die beiden Begriffe terminologisch unterschieden, doch die konzeptuelle Unterscheidung wohnt schon der Theorie des mittleren Wissens inne, die Luis de Molina[3] im sechzehnten Jahrhundert aufstellte.

Laut de Molina weiß Gott - logisch seinem Beschluss vorgeordnet[4], eine Welt zu erschaffen - nicht nur alles, was passieren könnte („natürliches Wissen“[5]), sondern auch alles, was jeweils kontingenterweise[6] unter hinreichend spezifischen Umständen passieren würde (sog. "mittleres Wissen").

Gottes natürliches Wissen ist sein Wissen aller notwendigen Wahrheiten. Damit weiß Gott die gesamte Brandbreite der möglichen Welten oder – wie Sie es formuliert haben – Welten, die in sich möglich sind. Er weiß beispielsweise, dass es eine mögliche Welt gibt, in der Petrus Jesus in freier Entscheidung dreimal verleugnet, und dass es eine andere mögliche Welt gibt, in der Petrus sich unter identischen Umständen zu ihm bekennt, denn beides ist möglich.

Gottes mittleres Wissen ist sein Wissen von allen kontingent wahren, konditionalen Propositionen[7] im Konjunktiv, inklusive Propositionen über freiwillige Handlungen von Geschöpfen. Beispielsweise wusste Gott, logisch vor seinem Schöpfungsdekret, dass Petrus, wenn er sich in den Umständen U befände, Jesus dreimal aus einer freien Entscheidung heraus verleugnen würde. Solche konditionalen Konjunktive werden oft Kontrafaktuale (oder "kontrafaktische Konditionale") genannt. Sie dienen zur Begrenzung der Bandbreite an möglichen Welten auf jene Welten, deren Umsetzung für Gott machbar ist. Es gibt beispielsweise eine an sich mögliche Welt, in der Petrus Jesus freiwillig bekennt – in der exakt gleichen Lage wie jene, in der er sich befand, als er ihn tatsächlich verleugnete. Doch aufgrund der kontrafaktischen Wahrheit, dass Petrus, wenn er eben in jener Lage wäre, Jesus verleugnen würde, ist die mögliche Welt, in der Petrus Jesus in dieser Lage freiwillig bekennt, für Gott nicht machbar. Gott könnte Petrus zwingen, Jesus in dieser Lage zu bekennen, aber dann wäre sein Bekenntnis nicht freiwillig. Aufgrund seines mittleren Wissens weiß Gott, welche die richtige Untermenge an möglichen, für ihn machbaren Welten ist, und zwar aufgrund der Kontrafaktuale, die wahr sind.

Gott beschließt dann, bestimmte freie Geschöpfe inmitten bestimmter Umstände zu erschaffen, und aufgrund seines mittleren Wissen und seines Wissens über seinen eigenen Beschluss weiß Gott somit im Voraus von allem, was alles passieren wird (sein „freies Wissen“[8]). So weiß er einfach auf Basis seiner eigenen inneren Verfassung, und ohne irgendeine Wahrnehmung der externen Welt zu benötigen, dass Petrus Jesus aus freien Stücken dreimal verleugnen wird.

Somit haben wir nach dem molinistischen Schema den folgenden logischen Ablauf:

Es gibt also in der Tat Welten, die an sich möglich sind, die Gott jedoch aufgrund derjenigen Kontrafaktuale, die eben wahr sind, nicht umsetzen kann und die deshalb – um es mit Flints Worten zu sagen – für Gott nicht machbar sind. Man muss dabei bedenken, dass es eine kontingente Sache ist, welche Welten für Gott machbar und welche nicht machbar sind, weil Kontrafaktuale der Freiheit der Geschöpfe kontingent wahr sind. Es hängt alles davon ab, wie sich Geschöpfe in verschiedenen Situationen aus freiem Willen verhalten würden, was außerhalb Gottes Kontrolle ist.

Alvin Plantinga war der erste zeitgenössische Philosoph, der dieses Schema auf das Problem des Bösen angewandt hat. Als Antwort auf die Behauptung von J. L. Mackie, dass ein allmächtiger Gott in der Lage sein sollte, eine Welt zu erschaffen, in der sich jeder immer dafür entscheidet, das moralisch Richtige zu tun, weil eine solche Welt an sich möglich ist, wies Plantinga darauf hin, dass eine solche Welt für Gott eventuell nicht machbar ist. Wir können annehmen, dass alle für Gott machbaren Welten, die genauso viel Gutes enthalten wie die aktuale Welt, auch genauso viel Böses enthalten. Somit mag eine Welt mit genauso viel Gutem aber weniger Bösem als die aktuale Welt zwar an sich möglich sein, doch steht es vielleicht nicht in Gottes Macht, eine solche Welt zu erschaffen. Gott kann also nicht dafür angeklagt werden, dass er eine solche Welt nicht geschaffen hat. Der Atheist, der dem Problem des Bösen hartnäc kig nachgeht, müsste beweisen, dass Welten mit so viel Gutem, aber weniger Bösem für Gott machbar sind, was niemand beweisen kann; das ist reine Spekulation. Damit hat der Atheist es nicht geschafft, seine Beweislast zu tragen.

Als Teil meines eigenen Schaffens habe ich versucht, den Unterschied zwischen möglichen und machbaren Welten bei der Beschäftigung mit Fragen wie dem Beharren der Heiligen, der Inspiration der Bibel und dem christlichen Partikularismus zu verwerten (siehe „Scholarly Articles: Omniscience; Christian Particularism[9]).

William Lane Craig

(Übers.: J. Booker)

Link to the original article in English: http://www.reasonablefaith.org/the-difference-between-possible-and-feasible-worlds



Anmerkungen

[1] Orig. „Does Evil Disprove God?“ (Anm. d. Übers.)

[2] Eng. „middle knowledge“ (Anm. d. Übers.)

[3] Luis de Molina, 1535-1600, jesuitischer Theologe, Begründer des Molinismus. (Anm. d. Übers.)

[4] Logische Priorität bezieht sich auf die Seins-Ordnung der Dinge. Zum Beispiel ist Gottes Existenz logisch vor der Möglichkeit von Wundern angesiedelt. (Wenn es keinen Gott gibt, kann es auch keine Wunder geben, da "Wunder" ein Handeln Gottes beinhalten). (Anm. d. Übers.)

[5] Eng. „natural knowledge“ (Anm. d. Übers.)

[6] Kontingente Ereignisse sind solche, die sich ereignen können, aber nicht müssen, je nach Rahmenbedingungen. Die Bahn könnte z.B. Verspätung haben oder auch nicht - was u.a. von Arbeiten an den Gleisen abhängt etc. (Anm. d. Übers.)

[7] Eine Proposition ist der Inhalt eines Aussagesatzes, z.B. "Der Baum ist grün". Konditional bedeutet: unter Bedingungen, z.B. "Wenn es regnet, wird die Straße nass.". Konditionale im Konjunktiv sind z.B. "Hätte es gestern nicht geregnet, wäre ich spazieren gegangen". (Anm. d. Übers.)

[8] Eng. „free knowledge“ (Anm. d. Übers.)

[9] Artikel nur in englischer Sprache (Anm. d. Übers.)

- William Lane Craig